Warum gibt es auf unserer Homepage keine Opfergruppen?


Auf unsere Homepage waren und sind wir von der ErinnerungsWerkstatt stolz: wie schnell es uns gelungen ist, eine Website fertigstellen zu lassen und online zu gehen. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Zunächst stand auf der Seite der Biografien neben der alphabetischen Namensliste auch eine Rubrik nach Opfergruppen.

 

Screenshot unserer Homepage im Juli 2021

Einige Vereinsmitglieder vertraten die Auffassung, damit könne die Suche erleichtert werden, wenn jemand z.B. alle Einträge von Menschen, die wegen § 175 RStGB als Homosexuelle verfolgt worden sind, sucht. Wir erstellten eine Liste mit verschiedenen Opfergruppen-Bezeichnungen wie „Zeugen Jehovas“, „Sinti und Roma“, Kommunisten und etliche mehr. Andere Vereinsmitglieder brachten Einwände gegen diese Kategorisierungen vor: es zeuge von Schubladendenken. Wir können doch nicht die Kategorisierungen der Nationalsozialisten reproduzieren, indem wir auf der Homepage die Begriffe übernehmen. Es folgte eine lange und ausführliche Diskussion. Immerhin: mit dem Problem der Benennung und Kategorisierung standen und stehen wir nicht alleine.

 
 

Kategorisierung als Problem

Ja, die Nationalsozialisten sortierten ihre Gegner: in den KZ-Lagern markierten sie die Häftlinge mit farbigen Winkeln. Der Winkel definierte im Lageralltag auch die soziale Stellung des einzelnen – diese konnte von Lager zu Lager unterschiedlich sein. So nahmen Häftlinge mit dem roten Winkel, die politischen Gefangenen, im KZ Dachau einflussreiche Positionen ein. Im KZ Flossenbürg dominierten die Häftlinge mit dem grünen Winkel, so genannte Berufsverbrecher, den Lageralltag. Manche Häftlingsgruppen fanden sich immer unten in der Hierarchie, so die Homosexuellen (rosa Winkel) und die „Asozialen“ (schwarzer Winkel).

Die Nachkriegszeit hat die Kategorisierung der Häftlinge insoweit übernommen, als die so genannte Wiedergutmachung sich auf die Verfolgungsgründe politisch, rassisch, religiös beschränkte. Ehemalige Häftlinge anderer Zuordnungen gingen leer aus: nicht nur materiell, sondern auch symbolisch: so zeigt das in den 1960er Jahren gestaltete Mahnmal in der Gedenkstätte Dachau Kettenglieder mit den Winkelfarben rot, gelb, blau, lila. Die Farben rosa, grün und schwarz fehlen.

Ausschnitt aus dem Mahnmal in der KZ-Gedenkstätte Dachau

 

Kategorisierungen können zunächst „helfen“, weil sie Orientierungsmarken im unübersichtlichen Feld der NS-Verbrechen darstellen. Aber diese Einteilung in Schubladen läuft auch Gefahr, in selbst gestellte Fallen zu tappen. Dies zeigt sich auch am Münchner Platz der Opfer des Nationalsozialismus.

 
 

Problemfall: Platz der Opfer des Nationalsozialismus

Am Platz der Opfer des Nationalsozialismus stand seit den 1980er Jahren nur eine Gedenksäule mit einem „ewigen“ Feuer hinter Gittern. Die Inschrift zeigte an, wem gedacht wird: „Den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Ringsum standen noch drei Straßenschilder „Platz der Opfer des Nationalsozialismus“. Jahrelang war bei Stadtrundgängen zum Nationalsozialismus ein Kritikpunkt, dass die Inschrift zu schwammig sei. Die provokante Frage lautete: „Sind diejenigen, deren Haus in einer Bombennacht zerstört wurde, auch Opfer? Das kann doch nicht sein! Wer sind also die Opfer?“

2013 gestaltete die Stadt den Platz neu: die Stele mit der Inschrift blieb. Sie wurde nun ergänzt mit einem Bronzeband, das den Platz gegen den Straßenraum abgrenzt. Auf dieses Bronzeband kam eine erläuternde Inschrift, die den Text auf der Stele konkretisieren will:

IM GEDENKEN AN DIE OPFER DER NATIONALSOZIALISTISCHEN GEWALTHERRSCHAFT

VERFOLGT AUS POLITISCHEN GRÜNDEN
VERFOLGT AUS RASSISTISCHEN GRÜNDEN
VERFOLGT AUS RELIGIÖSEN GRÜNDEN
VERFOLGT WEGEN IHRER SEXUELLEN IDENTITÄT
VERFOLGT WEGEN IHRER BEHINDERUNG

Die Erläuterungstafel spricht von „Opfergruppen“. Die Texte sind sicherlich durch viele Gremien und Hearings gelaufen und sollen alle Verfolgten abbilden. Aber ist das so einfach?

Die Auflistung der Verfolgungsgründe ist unvollständig und geht teilweise in die Irre: Wie sind an Schizophrenie oder Epilepsie erkrankte Menschen einzuordnen? Von den Nationalsozialisten sind sie ermordet worden, weil sie in Heilanstalten untergebracht waren. Wurden sie aufgrund ihrer Behinderung ermordet? Sind Schizophrene oder Epileptiker per se behindert? Das lehnen die Betroffenen heute ab.

Platz der Opfer des Nationalsozialismus 2008, vor der Umgestaltung

 

Erläuterungstafel 2014

 

Die Auflistung der Verfolgungsgründe ist unvollständig und geht teilweise in die Irre: Wie sind an Schizophrenie oder Epilepsie erkrankte Menschen einzuordnen? Von den Nationalsozialisten sind sie ermordet worden, weil sie in Heilanstalten untergebracht waren. Wurden sie aufgrund ihrer Behinderung ermordet? Sind Schizophrene oder Epileptiker per se behindert? Das lehnen die Betroffenen heute ab.

Bei der Verfolgung von so genannten Asozialen und Berufsverbrechern haben Historikerinnen und Historiker die Auffassung entwickelt, dass es sich um „Sozialrassismus“ handelt. Die Nationalsozialisten sahen abweichendes soziales Verhalten als unerwünscht an, das sie ausrotten wollten. Das ist eine gelehrte Definition von Historikern und Historikerinnen, die sich nicht für die Frau, den Mann auf der Straße erschließt.

Die Auflistung der Verfolgungsgründe ist unvollständig und geht teilweise in die Irre: Wie sind an Schizophrenie oder Epilepsie erkrankte Menschen einzuordnen? Von den Nationalsozialisten sind sie ermordet worden, weil sie in Heilanstalten untergebracht waren. Wurden sie aufgrund ihrer Behinderung ermordet? Sind Schizophrene oder Epileptiker per se behindert? Das lehnen die Betroffenen heute ab.

Bei der Verfolgung von so genannten Asozialen und Berufsverbrechern haben Historikerinnen und Historiker die Auffassung entwickelt, dass es sich um „Sozialrassismus“ handelt. Die Nationalsozialisten sahen abweichendes soziales Verhalten als unerwünscht an, das sie ausrotten wollten. Das ist eine gelehrte Definition von Historikern und Historikerinnen, die sich nicht für die Frau, den Mann auf der Straße erschließt.

 

Menschen sehen dich an

Das Problem der aufgezeigten Betrachtungsweisen ist die Blickrichtung: Die Nationalsozialisten besaßen die Definitions- und Deutungsmacht. Sie bestimmten, wer als Jüdin und wer als homosexuell anzusehen ist. Um die Verfolgungsgeschichte zu beschreiben, wird auf einer makrohistorischen Ebene diese Deutungsmacht ernstgenommen und daraus die Mechanismen der Ausgrenzung bis zur Ermordung dargestellt. Tatsächlich spielte es für die Täter keine Rolle, ob jemand sich selbst als Jude sah oder nicht. Etliche Juden und Jüdinnen hatten schon lange den jüdischen Glauben abgelegt, waren teilweise zu einer anderen Glaubensrichtung konvertiert. Im Kategoriendenken der Nationalsozialisten wurden sie dennoch (wieder) zu Juden gemacht.

Diese Beobachtung gilt auch für Homosexuelle: Die Biografie von Karl Josef Weigang zeigt exemplarisch, dass er sich vehement vor Gericht dagegen verwahrte, als Homosexueller bezeichnet und verurteilt zu werden.

Beim Verfassen von Biographien begeben wir uns auf die mikrohistorische Ebene. Uns interessieren die Lebenswege und Einstellungen auch vor 1933, die Handlungsspielräume in der Verfolgung. Wenn wir Hinweise haben, dass jemand die Einordnung als Homosexueller ablehnte, dann schreiben wir das auch auf. Die Betrachtung der Einzelfälle ließ unsere Gruppe endlich fragen: steht es uns heute zu, Menschen zu klassifizieren und sie in eine „Schublade“ zu stecken? Übernehmen wir damit nicht die Blickrichtung der Täter, obwohl wir doch der Verfolgten gedenken wollen? Wir möchten dies nicht. Deshalb haben wir die Rubrik der „Opfergruppe“ wieder entfernt. In den Biografien wird der Verfolgungsgrund genannt, wir können dort einzelne Schicksale beschreiben und der Würde des Einzelnen besser gerecht werden.

Eva Strauß

Weitere Infos zur Neugestaltung des Platzes der Opfer des Nationalsozialismus: https://www.muenchen.de/sehenswuerdigkeiten/orte/120316.html

 
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Ehrenhain I auf dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst