Marie Watzinger, geb. von Bollinger

 

Marie Watzinger als junge Frau, Foto: Privatbesitz Jörg Watzinger

Geboren am 25. November 1880 in München

Gestorben am 4. Mai 1945 in Göppingen

 

Herkunft und familiärer Hintergrund

Irma, Marie und Else von Bollinger, Foto: Privatbesitz Jörg Watzinger

Marie von Bollinger wurde 1880 als eine von drei Töchtern des Ehepaares Hedwig und Otto von Bollinger geboren. Ihre Schwestern waren Else und Irma von Bollinger. Ihr Vater war seit 1874 außerordentlicher Professor für vergleichende Pathologie an der Universität München. Als Marie sieben Jahre alt war, erwarb ihr Vater den Rohbau des Hauses in der Goethestraße 54, das die Familie später bezog. Marie erhielt keine Berufsausbildung – gemäß der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Vorstellung von der „natürlichen Berufung“ der Frau als Hausfrau und Mutter war dies keineswegs unüblich. Marie von Bollinger interessierte sich leidenschaftlich für Literatur und Theater.


Heirat und Familiengründung

Marie Watzinger mit ihren drei Kindern Karl Otto, Helmut und Irmgard, 1928, Foto: Privatbesitz Jörg Watzinger

Am 16. März 1912 heiratete Marie von Bollinger in Gießen den Archäologieprofessor Carl Watzinger. Die Vermählung wurde in ihrem Elternhaus mit einem eindrucksvollen Fest gefeiert. 1913 erblickte Karl Otto als erstes Kind des Ehepaares das Licht der Welt. Der zweite Sohn Helmut wurde 1915 geboren. Marie Watzinger zog beide Söhne alleine groß, da ihr Mann als Soldat im Ersten Weltkrieg zunächst an der Westfront und später als Dolmetscher für Arabisch im Denkmalschutzkommando unter Theodor Wiegand in Palästina eingesetzt war. 1918 wurde Carl Watzinger als ordentlicher Professor der Archäologie an die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen berufen, weswegen die Familie im Oktober von Gießen in die Neckarstadt umzog. Dort wurde im Jahr 1921 Tochter Irmgard geboren.


Literatur und Musik als Lebensinhalt

Marie Watzinger gab sich in ihrer freien Zeit ganz der klassischen Musik und Literatur hin. Sie selbst spielte gerne Klavier und hörte die Werke von Beethoven, Mozart, Haydn und Bach. Sie konnte sich sprachlich gut ausdrücken und war sehr belesen. Vor allem die Briefwechsel von Schriftstellern hatten es ihr angetan, weil sie der Meinung war, darin mehr über die Persönlichkeit der Autoren erfahren zu können als in deren Werken. Besonders von Goethe war sie fasziniert. Neben seinem Briefwechsel mit der Schauspielerin Marianne von Willemer liebte sie sein Werk „Dichtung und Wahrheit“, sein Schauspiel „Torquato Tasso“ und seine Gedichte. In einem Brief an ihren Sohn Karl Otto Watzinger, mit dem sie sich über Literatur austauschte, schrieb sie beispielsweise: „Es war so erholend, Goethes Gedichte zu lesen, sie sind tief und schelmisch und heiter dazwischen.“


Das Haus in der Goethestraße

Das Haus in der Goethestraße 54, in dessen Hochparterre ab 1932 die Pension Patria untergebracht war. Foto: Privatbesitz Jörg Watzinger

Nach dem Tod ihrer Mutter 1922, die das Haus in der Goethestraße nach dem Auszug Marie Watzingers alleine bewohnt hatte - ihr Vater war schon 1909 verstorben - erbten Marie und ihre Schwestern das Anwesen. Einem Eintrag im Gewerbeamt zufolge war Carl Watzinger seit 1932 Besitzer des Hauses. Die Watzingers vermieteten es ab 1932 an Hildegard Musch. Sie eröffnete im Hochparterre die Pension Patria. Diese fungierte als „Zwangsraum“ für jüdische Bürgerinnen und Bürger, indem sie eine Zwischenstation zwischen Enteignung und Deportation darstellte. Die Watzingers selbst lebten seit 1933 in ihrem Eigenheim auf dem Tübinger Österberg, ein östlich der Altstadt gelegener Stadtteil.


Gesundheitliche Probleme und Schicksalsschläge

Marie Watzinger im Schwarzwald, 1941, Foto: Privatbesitz Jörg Watzinger

Seit 1939 hatte Marie verstärkt mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Konnte sie die Jahre zuvor noch problemlos auf der Schwäbischen Alb oder in der Schweiz Wanderungen unternehmen, so waren aufgrund ihres Asthmas nun nur noch Spaziergänge ohne Steigungen möglich. Auch dass ihr ältester Sohn Karl Otto Watzinger wegen “Beihilfe zum Hochverrat” angeklagt wurde und seit 1939 im Gefängnis saß, machte ihr zu schaffen. Als Tochter Irmgard und Sohn Helmut zum Reichsarbeitsdienst und Studium 1940 das Elternhaus verließen, fürchtete sich Marie vor diesem neuen Lebensabschnitt. Ihre Kinder vermisste sie schmerzlich, was auch in ihren Briefen, die sie Karl Otto ins Gefängnis schickte, zum Ausdruck kam. Als Karl Otto 1941 aus der Haft entlassen wurde, unternahmen Marie und Carl Watzinger zusammen mit ihm einen dreiwöchigen Urlaub im Schwarzwald, nichtsahnend, dass die gemeinsame Zeit nur von kurzer Dauer war. Als sie mit ihrem Sohn wieder zuhause in Tübingen eintrafen, wurde dieser wenig später ohne Anklage verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Daraufhin verschlimmerte sich Marie Watzingers Zustand rapide. Die KZ-Haft ihres Sohnes belastete die über 60jährige so sehr, dass zu ihren körperlichen Beschwerden nun auch noch psychische Probleme hinzukamen. Sie fühlte sich unruhig, litt unter Schlafmangel, redete ohne Pause, war unkonzentriert und nicht mehr in der Lage, den Haushalt zu führen.


Einweisung in die Psychiatrie

Im Herbst 1942 wurde Marie Watzinger zum ersten Mal in die Psychiatrie Göppingen eingewiesen. Ihre Familie hatte zuvor ärztlichen Rat eingeholt, darunter auch den von Professor Robert Eugen Gaupp, einem Psychiater und Neurologen, der sich in der Zeit der Weimarer Republik für die rassenhygienische Zwangssterilisierung von geistig Behinderten aussprach. Die Klinik diagnostizierte Marie Watzinger eine agitierte Depression, eine Form der Depression, bei denen die Betroffenen neben klagend-anklagender Verstimmung innere und äußere Unruhe empfinden. Daneben wurde bei ihr eine Tablettensucht festgestellt, weil sie ein aufputschendes Asthmamittel genommen hatte. Während ihrer Aufenthalte bei ihrer Familie gelang es ihren Angehörigen nicht, dafür zu sorgen, dass sie nur die vorgeschriebene Menge an Tabletten einnahm.


Verschlechterung des Gesundheitszustandes und Tod

Marie Watzingers Zustand verschlechterte sich mehr und mehr. Nach zwei Jahren Klinik war ihr Gewichtsverlust, der daher rührte, dass sie das Essen oft verweigerte, unübersehbar. Weitere Schicksalsschläge machten ihr schwer zu schaffen. Ihr Sohn Karl Otto Watzinger war zu diesem Zeitpunkt zur „SS-Strafdivision Dirlewanger“ rekrutiert worden. Ihre Schwester Irma war bei einem Bombenangriff in Gießen ums Leben gekommen. Marie Watzinger gab sich an allem die Schuld. Sie wog nur noch 39 Kilogramm. Als Anfang 1945 Göppingen bombardiert wurde und die Patienten und Patientinnen den Luftschutzkeller aufsuchen mussten, brach sich die 65jährige ein Bein. Nur kurze Zeit nach dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen am 20. April 1945 verstarb Marie Watzinger Anfang Mai 1945 in der psychiatrischen Klinik. Sie war damit zu einem indirekten Opfer des Nationalsozialismus geworden.


Text und Recherche

  • Carolin Pfeuffer, Dezember 2025

Internet

Sonstige Quellen

  • Text über Marie Watzinger aus der Eröffnungsausstellung des Interimsquartiers der Villa Stuck im Mai 2024 in der Goethestraße 54.

 
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Karl Otto Watzinger

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Dr. phil. Karl Josef Weigang