Charlotte (Lotte) Carney

 
Stadtarchiv München, Kennkartendoppel 1938/39

Stadtarchiv München, Kennkartendoppel 1938/39

Geboren am 17. August 1900 in Berlin
Deportiert am 13. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz
Ermordet am 30. April 1943 im
Konzentrationslager Auschwitz

 
 

Elternhaus

Die Eltern von Charlotte Carney waren Hermann Lewin und Margaretha Bruck. Hermann Lewin wurde am 3. Juni 1859 in Neu Grabia, Kreis Thorn, im damaligen Westpreußen geboren, die Mutter am 22. Mai 1871 in Breslau. Sie heirateten am 17. Oktober 1899 in Berlin, wo Hermann Lewin bei der königlichen Eisenbahn als Bau- und Betriebsinspektor beschäftigt war. Am 17. August 1900 kam die Tochter Charlotte Luise zur Welt. In der Heiratsurkunde sind die Eltern noch mit jüdischer Religion eingetragen. Charlotte Carney und auch ihre Mutter konvertierten später zur evangelischen Religionsgemeinschaft.


Ausbildung und Heirat

Für kurze Zeit lebte die Familie Lewin in Hamm, wo der Vater am 24. August 1906 verstarb. Die Mutter heiratete am 28. Dezember 1907 in Berlin-Schöneberg den Amtsrichter Michel Alfred Herrmann, geboren am 14. August 1853 in Kurstein, Kreis Marienwerder, im damaligen Westpreußen. In der Einwohnermeldekarte wurde aus Charlotte Lewin nun Charlotte Herrmann. Aufgewachsen ist sie in Preußisch Stargard, dem heutigen Szczeciński in Polen. Sie bestand ihr Abitur 1920 im Oberlyzeum in Elbing, heute Elbląg in Polen. Später zog sie nach Magdeburg, wo ihr Stiefvater als Amtsrichter tätig war. 1921 legte sie die erste Prüfung für das Lehramt in Magdeburg ab. Am 3. Juni 1926 heiratete Charlotte Herrmann den am 9. März 1902 in Einbeck geborenen Kaufmann Paul Carney. Ab Ostern 1928 war Charlotte Carney an der evangelischen II. Volksschule im Magdeburger Stadtteil Buckau beschäftigt. Im Juni 1931 bestand sie die zweite Lehramtsprüfung, ebenfalls in Magdeburg.


Schicksalsschläge in München

Das Ehepaar zog am 2. Juli 1932 nach München und wohnte in der Galeriestraße 29. Paul Carney verdiente als Vertreter so gut wie nichts, Charlotte Carney wartete auf eine Festanstellung als Lehrerin. Das 1933 von den Nationalsozialisten erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, enthielt in Paragraph 3 den sogenannten Arierparagraph. Aufgrund dieses Paragraphen wurden Menschen jüdischer Herkunft nicht mehr als Beamte zugelassen. Dieses Gesetz machte Charlotte Carneys Chancen auf Einstellung als Lehrerin zunichte. Sie erkrankte aufgrund der Aufregungen an Ischias und konnte sich in den folgenden Monaten nur noch um den Haushalt kümmern. Ab 1935 arbeitete sie als kaufmännische Vertreterin für „Progress-Staubsauger“ bei der Firma Knies in der Mozartstraße. Weitere Schicksalsschläge folgten: Ihre Ehe wurde am 24. Juni 1936 geschieden, und 1938 wurde ihr die Gewerbeerlaubnis entzogen. Sie engagierte sich nun bei der Israelitischen Kultusgemeinde und arbeitete im Sachgebiet für Finanzfragen. Am 2. September 1939 war sie beim Arbeitsamt München als arbeitslos gemeldet.


Bemühungen um Auswanderung

Charlotte Carney bemühte sich um Auswanderung. Sie wandte sich um Hilfe an Rudolf und Annemarie Cohen, die die Münchner Anlaufstelle des internationalen Hilfswerks der Quäker leiteten. Sie standen in enger Verbindung zu beiden christlichen Kirchen. Es gelang den Cohens rund 130 Menschen die Emigration zu ermöglichen, indem sie Kontakte vermittelten, bei der Ausreise halfen und finanzielle Unterstützung organisierten. In den handschriftlichen Besuchsprotokollen von Rudolf Cohen ist auch Charlotte Carney aufgeführt. Wann sie sich genau an ihn wandte, ist jedoch nicht vermerkt. Rudolf Cohen verwies sie an die Hilfsstelle des „Büro Grüber“ in Berlin. Dies war eine Organisation der Bekennenden Kirche, die Konvertiten seelsorgerisch betreute und ihnen die Auswanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu ermöglichen versuchte. Sie war nach ihrem Leiter, Pfarrer Heinrich Grüber, benannt. Der Münchner Vertrauensmann der Organisation war Pfarrer Johannes Zwanzger, dessen Kontakte zu Charlotte Carney schriftlich fixiert sind. Von Mai bis Juli 1941 ging es um die Unterstützung für die Übersetzungs- und Beglaubigungskosten der Papiere für Charlotte Carney. Sie hatte einen Halbbruder in Rio de Janeiro, Brasilien, und benötigte 132 Reichsmark, um die Auswanderung in die Wege zu leiten. Pfarrer Zwanzger wandte sich aus diesem Grund an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Abteilung Wanderung. Sein Anliegen wurde ablehnend beschieden. Begründet wurde die Ablehnung mit den Bestimmungen des neuen brasilianischen Einwanderungsgesetzes, wonach nicht damit zu rechnen wäre, dass es ihrem Bruder gelänge, sie anzufordern und dass die Reichsvereinigung keine Mittel für eine von vornherein aussichtslose Sache hergeben würde.


Zwangsarbeit bei der Telefonfabrik Kammerer

Vom 19. September 1941 bis zum 6. März 1943 musste Charlotte Carney Zwangsarbeit bei der Firma A. & R. Kammerer in München am Tassiloplatz 6 verrichten. Sie wohnte während dieser Zeit zunächst noch in der Maria-Theresia-Straße 23, dem Hildebrandhaus. Dieses Haus war 1934 an Elisabeth Braun verkauft worden. Frau Braun war 1920 in die Evangelisch-Lutherische Kirche eingetreten. Sie bot von 1937 bis 1941 in ihrem Haus fünfzehn verfolgten Menschen Obdach. Sie alle waren, wie Charlotte Carney, christlichen Glaubens mit jüdischer Abstammung. Frau Carney war am 16. Januar 1937 in ein Zimmer unter dem Dach eingezogen. Sie lebte dort bis zu ihrem zwangsweisen Umzug in das Internierungslager Clemens-August-Straße 9 am 21. Oktober 1941. Diese sogenannte Heimanlage für Münchner Juden, im Münchner Stadtteil Berg am Laim, wurde im September 1941 im Kloster der Barmherzigen Schwestern eingerichtet. Es gab 38 Zimmer, in die jeweils sechs Menschen gepfercht wurden - jedem Bewohner standen somit ca. 2,5 Quadratmeter zur Verfügung, für die pro Tag fünfzig Pfennig Wohngeld zu zahlen waren. Als „Lohn“ für die Zwangsarbeit erhielten einige durchschnittlich fünfzehn Reichsmark in der Woche, andere bekamen gar nichts.

Maria-Theresia-Straße 23, Hildebrandhaus (2021)

Maria-Theresia-Straße 23, Hildebrandhaus (2021)

Deportation und Tod

Am 13. März 1943 deportierte die Gestapo Charlotte Carney mit der Deportationsnummer 54 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Laut einer Aussage von Frau Julie Preuß ist sie einige Wochen später an Typhus im Krankenrevier in Auschwitz-Birkenau, in dem unsägliche Bedingungen herrschten, verstorben. Frau Preuß kannte Charlotte Carney durch ihre Zusammenarbeit bei der Israelitischen Kultusgemeinde und überlebte die Shoah. Auf Antrag des Halbbruders Carl Herrmann legte das Amtsgericht München den Todeszeitpunkt von Charlotte Carney auf den 30. April 1943 fest.

 

Text und Recherche

  • Ruth und Klaus-Peter Münch

Quellen

  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 8295/35.

  • Historisches Archiv der Commerzbank, 500/3772-2000 (Deportationsliste).

  • Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg, Reg.-Nr. 445/1926, Aufgebotsakte VA 10876, Reg.-Nr. 445/1926.

  • Landesarchiv Berlin, P Rep 160 Nr. 456, Standesamt Berlin-Schöneberg I, Nr. 1377/1907.

  • Landeskirchliches Archiv der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Nürnberg, LAELKB: Vereine II, XIV, Nr. 7.

  • Staatsarchiv München, OFD 8772; Amtsgericht 100937.

  • Stadtarchiv Hamm, Sterbeurkunde 405/1906.

  • Stadtarchiv München, Einwohnermeldekartei.

  • Stadtarchiv München, Hausbogen.

  • Stadtarchiv München, Datenbank zum Biografischen Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945.

Internetquellen

Literatur

  • Bäumler, Klaus: Schatten über dem Hildebrandhaus. Auf Spurensuche nach Elisabeth Braun, in: Bezirksausschuss Maxvorstadt (Hrsg.), Von ihren Kirchen verlassen und vergessen? Zum Schicksal Christen jüdischer Herkunft im München der NS-Zeit, München 2006, S. 180.

  • Fix, Karl-Heinz: Glaubensgenossen in Not: die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern und die Hilfe für aus rassischen Gründen verfolgte Protestanten. Eine Dokumentation, Gütersloh 2011.

  • Kuller, Christiane / Schreiber Maximilian: Das Hildebrandhaus: eine Münchner Künstlervilla und ihre Bewohner in der Zeit des Nationalsozialismus, München 2006, S. 62 f.

  • Strnad, Maximilian: Zwischenstation „Judensiedlung“, Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941–1945, München 2011.

  • Zahn, Peter (Hrsg.): Hilfe für Juden in München. Annemarie und Rudolf Cohen und die Quäker 1938–1941, München 2013, S. 60 f.

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Dr. med. Arthur Dreyer