Marie Luise Kohn

 

Stadtarchiv München,

DE-1992-JUD-F-0206-10

Geboren am 25. Januar 1904 in München

Deportiert am 20. November 1941 nach Kaunas

Ermordet am 25. November 1941 in Kaunas

 

Elternhaus

Marie Luise Kohn kam am 25. Januar 1904 in der Elvirastraße 3 im Stadtteil Neuhausen zur Welt, zwei Jahre nach der Geburt ihrer Schwester Elisabeth. Im April 1914 verlegten ihre Eltern Olga und Heinrich Kohn, Inhaber der „Getreide- und Futtermittelgroßhandlung Otto Engl“, ihren Wohnsitz in die Loristraße 7 im Stadtteil Maxvorstadt.  

Nach der Grundschule besuchte Marie Luise die Höhere Töchterschule, das heutige Luisengymnasium. Wie ihr Onkel Emanuel Kohn, der ältere Bruder ihres Vaters, hatte sie künstlerisches Talent und strebte ein Kunststudium an. Emanuel Kohn war lange Zeit als Kunstmaler tätig. Seit Mai 1900 betrieb er in der Herzog-Rudolf-Straße eine „Vermittlung zum An- und Verkauf von Kunstgegenständen“. Durch seine Agentur stand er in ständigem Kontakt mit jungen Künstlern. Es wäre verwunderlich, wenn der inzwischen etwa 60-Jährige seine Erfahrungen nicht mit Marie Luise und ihren Eltern besprochen hätte. Vermutlich auf den sanften Druck der Eltern ließ sie sich zunächst zur Kindergärtnerin ausbilden. Nach erfolgreichem Abschluss 1922 hätte sie als Kindererzieherin im städtischen Dienst arbeiten können. Doch sie hielt an ihrem ursprünglichen Plan fest.


Studienjahre

Schon während der Ausbildung zur Erzieherin besuchte Marie Luise Kohn Kurse in Moritz Heymanns „Schule für zeichnende Künste und Malerei“, die junge Künstler auf die Aufnahme in die Akademie der Bildenden Künste vorbereitete. Im Wintersemester 1923/24 schrieb sie sich in der Akademie ein. Acht Semester studierte sie Malerei in der Klasse Karl Caspars sowie Grafik, Radieren und Zeichnen bei Adolf Schinnerer. In der Kunstgewerbeschule, einer weiteren renommierten Ausbildungsstätte, studierte sie einige Semester in der Theaterklasse von Emil Preetorius, einem der damals erfolgreichsten Bühnenbildner.

Das Bild zeigt Marie Luise Kohn 1924 (Staatsarchiv München, Pol.Dir. 14698)


Künstlerin Maria Luiko

Viele Künstler dieser Zeit legten sich Künstlernamen zu, auch Marie Luise Kohn. 1924 stellte sie erstmals drei Scherenschnitte unter dem Namen „Maria Luiko“ im Glaspalast im Alten Botanischen Garten aus, damals der „Dreh- und Angelpunkt der Münchner Kunstszene“. Bis 1931 war sie dort jährlich mit Zeichnungen, Aquarellen und Ölgemälden, aber auch Lithographien, Holzschnitten und Linoldrucken vertreten. 

Das Interesse des Münchner Kunstmarktes zu gewinnen war für junge Künstler schwierig. Chancen, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren, bot die Künstlervereinigung „Die Juryfreien“. Diese Gruppe verstand sich als Gegenpol zu den konservativen Künstlervereinigungen und deren praktizierte Auswahlverfahren. 1927 trat Maria Luiko als eine von wenigen Frauen den Juryfreien bei.  

Die „überaus sensible junge Frau mit [den] verträumten, großen, schwarzen Augen“, so beschrieb sie Schalom Ben-Chorin, wusste genau, was sie wollte. Als Mitglied der Juryfreien konnte sie sich auf die damals wenig beachteten sozialkritischen Themen konzentrieren und ihre Werke in Ausstellungen zeigen. 1930 war die 26-Jährige die einzige Frau unter den Juroren, die die Künstler für die Ausstellungen der Juryfreien im Glaspalast auswählten und bewerteten. Sie war auch die einzige Graphikerin der Juryfreien, die in diesem Haus ausstellte. 

Vermutlich in diesen Jahren wurde der Kunstsammler Heinrich Thannhauser auf sie aufmerksam. Thannhauser, einer der wichtigsten Förderer expressionistischer Kunst, besaß in der Theatinerstraße eine international angesehene Galerie. Er übernahm von Maria Luiko eine Mappe mit zwölf Zeichnungen – 60 Mark bekam sie dafür – und verkaufte sie in die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie war auf dem Weg zur anerkannten Künstlerin.

Bild links: Selbstportrait vermutlich um 1935

Bild rechts: Frau im Schlafzimmer um 1935

Beide Bilder: Jüdisches Museum München,

Sammlung Maria Luiko, Inv.-Nr. JM 02.111/2007,

Foto: Franz Kimmel


Machtübernahme der Nationalsozialisten

Im Frühjahr 1933 regte Marie Luise Kohn als eine Art Experimentalbühne ein biblisches Marionettentheater an, dessen hebräischer Name „Bimath Buboth“ in etwa „Puppentheater“ bedeutet. Mit dabei war der ebenfalls den Juryfreien angehörende Maler, Graphiker und Kunsthandwerker Rudolf Ernst. Die Texte verfasste der 20-jährige Fritz Rosenthal, der sich nach seiner Emigration nach Palästina 1935 Schalom Ben-Chorin – Friede, Sohn der Freiheit – nannte. Mit ihm verband sie bald eine enge Freundschaft.

Im September 1933 setzten die Nationalsozialisten das Reichskulturkammergesetz in Kraft, das jüdischen Künstlern die Mitgliedschaft im Reichsverband bildender Künstler verwehrte. Das damit verbundene Ausstellungsverbot kam einem Berufsverbot gleich.  

Nachdem sich als Reaktion darauf in Berlin der „Kulturbund Deutscher Juden“ gründete, etablierte sich im Februar 1934 auch in München der „Jüdische Kulturbund in Bayern“. Mit dem Kulturbund konnte Marie Luise Kohn wieder an Ausstellungen teilnehmen, wenn auch nur für ein ausschließlich jüdisches Publikum.


Das Münchner Marionettentheater Jüdischer Künstler

Marie Luiko 1934

(Staatsarchiv München, Pol.Dir. 14698)

Der Kulturbund ermöglichte ihr ein weiteres Betätigungsfeld. Gemeinsam mit Rudolf Ernst und einem Freundeskreis von Künstlerinnen und Künstlern aus Oper, Schauspiel und bildender Kunst gründete sie das „Münchner Marionettentheater Jüdischer Künstler“. Marie Luise Kohn und Rudolf Ernst gestalteten den Spielplan und schufen das Bühnenbild, Textverfasser war bis zu seiner Emigration Fritz Rosenthal. Die Marionetten entwarf und fertigte Marie Luise Kohn.

Die Bayerisch Israelitische Gemeindezeitung kündigte die erste Vorstellung an: „Theateraufführung Marionettentheater am 30.1.35. Die Bühne ist von Maler Ernst und Malerin Luiko hergestellt.“ Die anspruchsvollen Aufführungen kamen gut an, wie eine Kritik vom Januar 1936 belegt: „Es ist ein kleines Wunder, wie nach der heimischen Musik die Marionetten von Marie Luise Kohn, das szenische Bild von Rudolf Ernst jenes Leben gewinnen, das die besten Schauspieler in schwere Zweifel bringen kann.“ Wie viele Vorstellungen des Marionettentheaters es insgesamt gab, lässt sich mangels Aufzeichnungen nicht feststellen. Die letzten Aufführungen fanden am 13. und 14. März 1937 im Turnsaal des Jüdischen Turn- und Sportvereins an der Plinganserstraße 76 statt. 


Denunziation

Die Theatergruppe bestand aus bis zu sechzehn Künstlern und Künstlerinnen. Wenn wieder einmal der Raum für Proben fehlte, lud Marie Luise Kohn die Gruppe in ihr Atelier im 4. Stock der Blutenburgstraße 12 ein. Das Auftauchen einer Gruppe Juden in den späten Abendstunden weckte das Misstrauen zweier Nachbarinnen. Die Finanzratsgattin Schmoll und die Witwe Amalie Spielbühler  denunzierten Marie Luise Kohn am 12. März 1936 bei der NSDAP-Gauleitung. Wegen des Verdachts einer „kommunistischen Brutstätte“ ermittelte daraufhin die Bayerische Politische Polizei und bestellte Marie Luise Kohn zur Vernehmung ein. Sie konnte den Sachverhalt zwar aufklären, doch das ausführliche Vernehmungsprotokoll vom 22. April 1936 zeigt, wie beunruhigend die Befragung für sie gewesen sein muss. Zwei Tage später legte die Polizei den Vorfall zu den Akten. 

Noch im selben Monat erlebte sie in Berlin einen schönen Erfolg: Anlässlich der Reichsausstellung jüdischer Künstler im Jüdischen Museum ernannte man Marie Luise Kohn, Rudolf Ernst und die Schauspielerin Elisabeth Springer zu Repräsentanten bayerisch-jüdischer Künstler. In Berlin fand auch ihre letzte Ausstellung statt: 1937 in den Räumen des Jüdischen Frauenbundes. 

Danach arbeitete sie als Hilfsbibliothekarin in der Bibliothek der Kultusgemeinde und zusätzlich ehrenamtlich als Handwerks- und Zeichenlehrerin an der Jüdischen Volksschule.


Briefwechsel mit Schalom Ben-Chorin

Marie Luise Kohn unterhielt mit Schalom Ben-Chorin nach seiner Emigration einen regen Briefverkehr. Sie war Mitglied der Zionistischen Ortsgruppe München und hatte einige Zeit geplant, ebenfalls nach Palästina auszuwandern. 

1937 schrieb sie zum ersten Geburtstag von Schalom Ben-Chorins Sohn Tovia einen Brief an den Einjährigen. Auf dem Briefkopf das kolorierte Bild eines Kindes in etwa diesem Alter.

Stadtarchiv München, Judaica Varia 61 

“Lieber, kleiner Tobias!

Ein Jahr ist es also schon, so lange treibst Du Dich herum. Was hast Du wohl schon für Erfahrungen gemacht? Wie lange wird es wohl noch dauern bis Du uns davon erzählst? Dieses Fest heute, Dein erster Geburtstag, ist wohl noch mehr ein Fest für Deine Eltern. Oder solltest Du selbst auch schon was vom Feiern verstehen? Vom süssen Kuchen, vielleicht, oder auch schon vom Habenwollen und Geschenke bekommen? Ich wünsche Dir dass Du immer gern diesen Tag festlich feiern möchtest, […] dass du immer gern lebst. […] Verzeih, wenn es ein wenig zu erwachsenhaft klingt, ein wenig wird’s immer Deine Sache sein, dass man Deine Jahre mit Freude und Zuversicht zählen wird, Tobias. Heute habe ich einen anderen Jungen abgezeichnet, aber bald werde ich Dich zeichnen und viel schöner. Ich verspreche es.

Also auf bald! Deine Ali“

1939 war von ihrer Zuversicht nichts mehr zu spüren. In einem langen Brief vom 13. Juni 1939 schrieb sie: „Ich bedauere wirklich, dass wir gar so lange gehofft haben, doch noch einen Weg nach Palästina zu finden. Wir haben viel wichtige Zeit darüber ungenützt verstreichen lassen. Nun bleibt nur mehr der Weg als Dienstmädchen nach England. Wir haben uns dazu lange nicht entschlossen.“ Gemeinsam mit ihrer Schwester Elisabeth bewarb sie sich um Anstellungen in England, doch waren dies „meist ganz fruchtlose Versuche, eine Flut von Fragebogen, fast immer negative Antworten.“  

„Ich habe seit einem Jahr nicht mehr gemalt“, berichtete sie, „nur Kunstgewerbe gemacht“. Trotzdem freute sie sich über eine Buchankündigung Ben-Chorins: „Ich bin sehr neugierig darauf.“ Doch ließen sie seine Worte auch schmerzhaft wahrnehmen, wie beengt ihr eigenes Leben geworden war: „Wie aus einer anderen Welt heraus ist Deine Bemerkung, ich solle in unserem Freundeskreis dafür werben. Sowas gibt es nicht mehr. Alle, aber auch alle unsere wirklichen Freunde sind weg. Auch alle die guten Bekannten, denen man etwas zu sagen hatte und die einem was zu sagen hatten. Das was es hier noch gibt sind wirkliche Überbleibsel. Und was man redet – hoffnungslos.“

Vertreibung aus der Wohnung

Im August 1939 musste die Familie ihr gewohntes Zuhause aufgeben und in die Frundsbergstraße 8 umziehen, ein sogenanntes Judenhaus, wo ihnen nur zwei Zimmer zur Verfügung standen. Im Sommer 1941 waren sie gezwungen, auch dieses Haus zu verlassen. Ab 18. Juli waren sie in einem weiteren „Judenhaus“ in der Leopoldstraße 42 untergebracht, dort konnten sie jedoch nur bis Oktober bleiben.  

Danach war eine gemeinsame Unterbringung zunächst nicht möglich. Marie Luise Kohn fand am 10. Oktober für wenige Tage einen Unterschlupf in der Herzogstraße 65. In der Pension Musch in der Landwehrstraße 6 konnte sie dann wieder mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammentreffen.

Vergebliche Suche nach einem Ausweg

Marie Luise Kohns Schwester Elisabeth hatte etwa um den Jahreswechsel 1940/41 ihren in die USA emigrierten Kollegen Max Hirschberg um Hilfe gebeten. Hirschberg und weitere Anwaltskollegen versuchten bis zuletzt, die Gelder für die Bürgschaften und das Landegeld in Kuba für die Familie zu beschaffen. Als die Gelder endlich zur Verfügung standen, war es zu spät.  

Am 23. Oktober 1941 erließ das NS-Regime ein Emigrationsverbot für jüdische Bürger.

1938/39: Menschengruppe vor der Deportation.

Vermutlich Maria Luikos letztes Bild.

(Jüdisches Museum München, Sammlung Maria Luiko, JM 02.109/2007, Foto: Franz Kimmel)

 

Deportation nach Kaunas

Anfang November 1941 erhielt die Familie einen Deportationsbescheid zugestellt. Vom 10. November an mussten sie kurze Zeit im jüdischen Übernachtungshaus in der Wagnerstraße 3 ausharren, bis man sie ins Barackenlager Milbertshofen transportierte, dem Sammellager vor den Deportationen.  

Am 20. November 1941 verschleppte die Gestapo Marie Luise Kohn mit ihrer Mutter Olga und ihrer Schwester Elisabeth nach Kaunas in Litauen. Fünf Tage später wurden sie von Angehörigen eines SS-Sonderkommandos  und litauischen Helfern in Massenerschießungen ermordet. 


Erinnerung an Marie Luise Kohn

Stolpersteine vor der Loristraße 7, München (Foto: Privat)

Etwa 130 Grafiken Maria Luikos werden im Jüdischen Museum München aufbewahrt, weitere Arbeiten im Lenbachhaus. Im Stadtmuseum München befinden sich etwa 50 ihrer Marionetten. 

Seit 20. November 2021 erinnern Stolpersteine vor dem Haus Loristraße 7 an Marie Luise Kohn, ihre Mutter Olga und ihre Schwester, die Anwältin Dr. Elisabeth Kohn.


Text und Recherche

  • Ingrid Reuther

Quellen

  • Bayerische Staatsbibliothek: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung Nr. 2/1935.

  • Staatsarchiv München, Pol.Dir. 14698, OFD 7254.

  • Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945; Nachlass Schalom Ben-Chorin JUD F-0206; EWK 38.

Literatur

  • Ben-Chorin Schalom: Jugend an der Isar. Gütersloh 2001, S. 122-123.

  • Kastner Wolfram (Hrsg.): „hier wohnte…“ Projekt zur Erinnerung an jüdische Nachbarn in Neuhausen. München 2013, S. 37-42.

  • Oesterle Diana: „So süßlichen Kitsch, das kann ich nicht“, München 2009.

  • München 2013, S. 37-42.

Internet

  • https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de: Münchner Marionettentheater Jüdischer Künstler.

  • https://www.uni-muenchen.de: Kunststadt München 2012/2: Anna Messer: Rudolf Ernst. Maler, Graphiker, Kunsthandwerker.

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