Kitty Neustätter, geb. Herz

 

Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002

 

Geboren am 26. Februar 1902 in Wien

Deportiert am 20. November 1941 nach Kaunas

Ermordet am 25. November 1941 in Kaunas

 

Elternhaus und Kindheit

Sie war klein und sehr schlank –  geradezu ideale Voraussetzungen für ihre Leidenschaft, den Reitsport. Woher Kitty Neustätters Begeisterung für den Umgang mit Pferden stammte und ob sie schon als Kind ritt, ist unbekannt. Otto Herz, ihr Vater, kam aus Neutitschein (heute Nový Jicín) in Mähren. 1870 als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren, ließ er sich in den 1890er Jahren in Wien nieder. In der österreichischen Hauptstadt arbeitete er als Reisender in der Tücher- und Modewarenfabrik Löbl & Herz, deren Gesellschafter er auch war. Das offenbar innovative Unternehmen meldete immer wieder neue Stoffmuster bei der Handels- und Gewerbekammer an und erhielt damit Designschutz für jeweils ein Jahr.  

Über Kitty Neustätters Mutter Olga Großmann konnte fast nichts in Erfahrung gebracht werden: Im Dezember 1896 meldete die Wiener „Neue Freie Presse“ die Verlobung mit Otto Herz. Im Juni 1897 gab die „Wiener Zeitung“ in ihrem Amtsblatt ihre bereits am 7. April geschlossene Ehe bekannt.  

Am 26. Februar 1902 kam Kitty zur Welt. Noch vor ihrem fünften Geburtstag starb am 6. Januar 1907 ihre Mutter im Alter von achtundzwanzig Jahren. Im April 1909 heiratete Otto Herz die Klavierlehrerin Berta Böhm in deren Heimatstadt Troppau  (heute Opava) in Schlesien. Dort wurde am 22. Januar 1910 Kittys Halbschwester Lilli geboren. Unklar ist, wie lange die Familie in Troppau lebte. Die Amtliche Kurliste des Kurbades Baden bei Wien vermerkte am 17. August 1916 die Ankunft von Otto Herz mit Familie aus der Troppauer Friedrichstraße 37.


In München

Nicht mehr klären lässt sich auch, wann Otto Herz seine Tätigkeit bei der Phönix-Lebensversicherung aufnahm. Die 1860 in Wien gegründete Versicherung gewann in den 1890er Jahren mit Hilfe der Münchner Rückversicherung auch in Süddeutschland an Bedeutung. 1917 beorderte die Wiener Zentrale Otto Herz vorübergehend als „Direktionsbevollmächtigten für das Deutsche Reich“ nach München. Als die Phönix sich vergrößerte – allein in München gab es bald schon fünf Büros mit über zweihundert Angestellten ­– war seine ständige Präsenz erforderlich.  

Wegen der damals herrschenden Wohnungsknappheit logierte Otto Herz von Februar 1918 bis Mai 1919 im Hotel Bayerischer Hof. Im Juli 1919 konnte seine Familie nachkommen, musste sich aber mit einer vorübergehend zur Verfügung gestellten möblierten Wohnung im Erdgeschoß der Possartstraße 10 zufrieden geben. Erst im Oktober 1920  bezogen sie eine eigene Wohnung im 2. Stock desselben Hauses. 

Wohl ebenfalls 1920 legte Kitty Herz ihr Abitur ab und begann an der Ludwig-Maximilians-Universität München Nationalökonomie zu studieren. Kurz vor dem Abschluss brach sie jedoch ihr Studium ab und unterstützte danach ihren Vater bei seiner Arbeit. Die Tätigkeit war sicher nicht ohne Reiz: Im Januar 1923 stieg Otto Herz zum Direktor der Phönix für ganz Deutschland auf. Als seine Sekretärin und Assistentin begleitete sie ihn auf Geschäftsreisen nicht nur zu den deutschen Niederlassungen, sondern auch nach Österreich, Italien und in die Tschechoslowakei.  

Daneben dürfte sie auch an den Vorbereitungen für Wohltätigkeitsveranstaltungen beteiligt gewesen sein, wie zum Beispiel der Weihnachtsfeier des Österreichischen Hilfsvereins zu Gunsten armer Familien im Märzenkeller in der Bayerstraße. Am 18. Dezember 1925 berichtete die Münchner „Allgemeine Zeitung“ von illustren Gästen, die „der sehr hübschen Feier [bei]wohnten“, darunter auch „Herr und Frau Kommerzienrat Otto Herz, der sich um das schöne Gelingen des Festes ganz besonders verdient gemacht hat“. Der prestigeträchtige Ehrentitel Kommerzienrat lässt auf erhebliche Stiftungen für das Gemeinwohl schließen, sie waren Voraussetzung dafür.


Glückliche Jahre

In dieser Zeit lernte Kitty Herz den achtzehn Monate älteren Münchner Kaufmann Rupprecht Neustätter kennen, der Prokurist in der familieneigenen Papierwarenfabrik war. Das junge Paar heiratete am 15. März 1928 und bezog eine große Wohnung im Innenhof der Äußeren Prinzregentenstraße 17 (heute Prinzregentenstraße 83).    

Kitty Neustätter verbrachte einen Großteil ihrer Freizeit beim Reiten. Dabei lernte sie die nichtjüdische Friedel Lahs kennen, mit der sie bald Freundschaft schloss. Die versierte und mit Preisen ausgezeichnete Turnierreiterin besaß in Pischetsried bei St. Heinrich am Starnberger See ein kleines idyllisch gelegenes Landhaus. In den Stallungen standen zwei oder drei Pferde und immer wieder auch ein Fohlen. Ihre Pferde überließ Friedel Lahs nur erfahrenen Reiterinnen und Reitern wie Kitty Neustätter. Daneben vertraute sie ihr viele Male das Einreiten von Jungpferden an. Für diese verantwortungsvolle Aufgabe muss man „sattelfest sowie ausbalanciert und geschmeidig im Sitz“ sein – Kriterien, die Kitty Neustätter erfüllte. So oft es ihre Zeit zuließ, hielt sich Kitty Neustätter, die selbst auch an Pferderennen und Turnieren teilnahm, bei ihrer Freundin auf. 

Ihr Mann Rupprecht Neustätter teilte zwar ihre Begeisterung für den Reitsport nicht, doch als passionierter Fotograf nahm er gerne an ihren Ausflügen teil und fotografierte sie unzählige Male hoch zu Ross und auf der Pferdekoppel.

Landhaus am Starnberger See (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002-035)

Kitty Neustätter beim Springtraining 1936 (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002)

Bootsfahrt auf dem Starnberger See (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002-024)

Kitty Neuberger mit Friedel Lahs, Reiten im See (Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002-021)


Machtübernahme der Nationalsozialisten

Am 9. März 1933 wehte auch in München die Hakenkreuzfahne am Rathaus. Kitty Neustätters Familie bekam die neue Staatsgewalt unmittelbar danach zu spüren. In den frühen Morgenstunden des 10. März erschienen gegen 3.30 Uhr Angehörige der NSDAP und SS vor der Wohnungstür ihres Vaters. Als niemand öffnete, zerschlugen sie die Glasscheibe und durchsuchten die Wohnung nach Waffen. Otto Herz erkannte einen von ihnen: Es war sein ehemaliger Fahrer Hans Wolfram.

Noch im selben Jahr musste Otto Herz wegen seiner jüdischen Herkunft seinen Direktorenposten räumen.


Eine Freundin auch in schwierigen Zeiten

Die massive antisemitische Propaganda machte auch vor der Idylle am Starnberger See nicht halt. Bereits in den 1920er Jahren hatte die NSDAP rund um den See immer mehr Anhängerinnen und Anhänger gefunden. Nach den „Rassengesetzen“ prangten ab 1935 in den Orten Schilder mit der Aufschrift „Juden sind hier nicht erwünscht“. Auch der Bürgermeister von St. Heinrich war offenbar ein überzeugter Nationalsozialist. Mehrmals forderte er Friedel Lahs auf, die Beziehung zu ihren jüdischen Freunden zu beenden. Doch die sah nicht ein, dass sie sich vorschreiben lassen soll, mit wem sie befreundet sein durfte. Trotz der Anfeindungen waren Kitty und Rupprecht Neustätter bei ihr weiterhin willkommen.


Die „Kristallnacht“ und ihre Folgen

1938 war ein Schreckensjahr für Kitty Neustätters Familie: Im April veräußerten ihre Schwiegereltern ihr Wohnhaus. Im Mai musste auch die Papierfabrik, die seit 1933 immer mehr Kunden verloren hatte, verkauft werden. Im September starb ihre Schwiegermutter Anna Neustätter. Am 10. November verhaftete die Gestapo im Zuge der Pogromnacht ihren Mann sowie seinen Vater und verschleppte sie ins Konzentrationslager Dachau. Der 64-jährige Albert Neustätter kam dort am 24. November ums Leben. Rupprecht Neustätter konnte das Lager am 1. Dezember 1938 unter der Bedingung verlassen, innerhalb von vier bis sechs Wochen auszuwandern.


Emigrationsziel Australien

Die Suche nach einem Aufnahmeland war schwierig. Schließlich fanden Kitty und Rupprecht Neustätter eine Möglichkeit, nach Australien auszuwandern und konnten Kontakt zu einem Herrn Smelitschek nach Sidney aufnehmen. Zwar waren sie bereits im Februar 1939 in Canberra gemeldet, doch die Genehmigung zur Einreise ließ auf sich warten. Am 3. Mai 1939 setzte ihnen die Gestapo eine erneute Frist von sechs Wochen. Beunruhigt baten sie die Münchner Quäker Annemarie und Rudolf Cohen um Hilfe, die sich bemühten, die Erteilung der Einreisegenehmigung zu beschleunigen. Eine zermürbende Wartezeit begann.  

Am 11. September 1939 mieteten sie wohl in der Hoffnung auf das baldige Gelingen der Emigration ein Zimmer in der Pension Gartenheim in der Königinstraße 21. Einen Container mit Umzugsgut schickten sie an den Hamburger Hafen, einen Koffer als Passagiergut nach Rotterdam, von wo die Schiffsreise starten sollte.


Eine Oase auf dem Land

Einzige Lichtblicke in dieser Zeit waren die häufigen Besuche bei ihrer Freundin. Friedel Lahs hatte sich in Erinnerung an die schlechten Zeiten im Ersten Weltkrieg und aus Sorge vor einem neuen Krieg im Frühjahr 1939 einen etwas abgelegenen Bauernhof bei Jettenhausen gekauft. Möglich war dies nur mit dem Argument, dort eine als kriegswichtig angesehene Pferdezucht zu betreiben. In dem 400 Jahre alten stattlichen Bauernhof mit seinen großen Stallungen waren Pferde, Kühe, Schweine und Hühner untergebracht.

Bauernhof bei Jettenhausen (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002-028)

Kitty Neustätter und Friedel Lahs vor dem Bauernhaus (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002-005)

Auf den in dieser Zeit entstandenen Fotografien und Filmen sieht man Kitty beim Reiten über das ausgedehnte Gelände und auf der Weide bei den Kühen. Sie war eine aktive und zupackende junge Frau, die auch bei der Heuernte und beim Wechseln von Wagenrädern half. Ein Bild zeigt sie, robust in Gummistiefel gekleidet, mit Friedel Lahs beim Aufzäumen eines Pferdes. Trotz der schwierigen Zeit sieht sie auf den Bildern gelöst und fast glücklich aus.

Friedel Lahs und Kitty Neustätter (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS 002-034)

Bild: Stadtarchiv München, Nacchlass Neustätter, JUD_NL-NEUS-002

Friedel Lahs und Kitty Neustätter bei der Heuernte. (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-Neus-002-007)

Ausreiten mit Friedel Lahs (Bild: Stadtarchiv München, Nachlass Neustätter, JUD-NL-NEUS-002)


Zwangsarbeit

Etwa ab August 1941 musste Kitty Neustätter Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof leisten. Zu der langen Arbeitszeit kam die tägliche Fahrt von München nach Lohhof. Die Zustände in dem Zwangsarbeitslager und die schwindende Hoffnung auf ein Gelingen der Flucht aus Deutschland, setzten ihr sehr zu. Mehrmals erlitt sie Nervenzusammenbrüche.  

Am 23. Oktober 1941 verhängte das Reichssicherheitshauptamt ein generelles Ausreiseverbot für jüdische Bürger. Damit war der Weg nach Australien versperrt.


Deportation und Ermordung

Am 20. November 1941 deportierte die Gestapo Rupprecht und Kitty Neustätter mit 997 anderen jüdischen Münchnern nach Kaunas in Litauen. Zwei Tage dauerte die Zugfahrt, weitere zwei Tage mussten die Verschleppten in den verrotteten Zellen von Fort IX ausharren. Angehörige eines SS-Sonderkommandos und litauische Kollaborateure erschossen sie am Morgen des 25. November 1941.


Schicksal der Familienangehörigen

Kitty Neustätters Vater Otto Herz und ihre Stiefmutter emigrierten nach Luzern in der Schweiz; wann, ist unklar. 

Ihre Schwester Lilli war mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Walther Krafft, 1935 nach Eger (heute Cheb) gezogen. Am 2. Juli 1942 wurden beide mit ihren Kindern Hanus und Alzbeta von Prag in das Ghetto Theresienstadt deportiert und zwölf Tage später in das Vernichtungslager Malý Trostinec bei Minsk verschleppt. Vermutlich wurden sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet. 


Erinnerung an Kitty und Rupprecht Neustätter

Erinnerungszeichen (Foto: Tom Hauzenberger)

Vor der Prinzregentenstraße 83 gibt es seit dem 25.11.2021 ein Erinnerungszeichen für Kitty und Rupprecht Neustätter.


Text und Recherche

  • Ingrid Reuther

Quellen

  • Stadtarchiv München, Einwohnermeldekartei EWK 38.

  • Stadtarchiv München, Polizeimeldebogen PMB H259.

  • Stadtarchiv München, Datenbank zum Biografischen Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945.

  • Staatsarchiv München, OFD 6962, WB1 a1439.

  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 26959.

  • Archiv Gedenkstätte Dachau, Häftlingszugangsbuch Rupprecht und Albert Neustätter, Todesanzeige Albert Neustätter.

  • Persönliche Gespräche mit Frau Gabriele Heyde, Tochter von Friedel Lahs, im Sommer/Herbst 1921.

Literatur

  • Österreichische Nationalbibliothek, Historische Zeitschriften, https://anno.onb.ac.at/node.

Literatur

  • Selig Wolfram, Leben unterm Rassenwahn, Berlin 2001, S. 75-78.

  • Strnad Maximilian, Flachs für das Reich, München 2013, S. 143.

  • Zahn Peter, Hilfe für Juden in München, Annemarie und Rudolf Cohen und die Quäker 1938-1941, München 2013, S. 206-208.

 
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