Dr. med. Gustav Wiener
Geboren am 7. Juni 1873 in Regensburg
Überfallen am 28./29. März 1933 in München
Gestorben am 25. November 1933 in München
Dr. med. Gustav Wiener
Kaum hatten die Nationalsozialisten die Macht am 9. März 1933 im Münchner Rathaus übernommen, nutzten sie dies als Freibrief, gewaltsam gegen Juden und politische Gegner vorzugehen. Ende März überfiel eine Horde von SA-und SS-Schergen den Frauenarzt und Geburtshelfer Gustav Wiener und misshandelten ihn auf das äußerste.
Kindheit, Jugend und Ausbildung
Seine Kindheit und Jugend verbrachte der am 7. Juni 1873 geborene Gustav Wiener in seiner Geburtsstadt Regensburg. Die Familie stammte ursprünglich aus dem oberpfälzischen Floß, wo sein Vater Nathan Wiener Großhändler war. Er hatte Julia Brüll geheiratet, die 1864 die älteste Tochter Babette, ein Jahr später die zweite Tochter Anna gebar. Weil das wirtschaftliche Fortkommen aussichtsreicher schien, zog die Familie im gleichen Jahr nach Regensburg. 1867 zeigte die Familie die Geburt der dritten Tochter Louise an und schließlich kam am 7. Juni 1873 Gustav zur Welt.
1892 legte Gustav Wiener am Königlichen Neuen Gymnasium seine Reifeprüfung ab. Zunächst studierte er zwei Semester Medizin in München, wechselte für weitere zwei Semester nach Tübingen, wo er auch sein Physikum bestand.
Danach ging er nach Breslau, wo sein Onkel Max Wiener (1850 - 1898) als außerordentlicher Professor lehrte. In dessen Poliklinik für kranke Frauen verbrachte Gustav Wiener auch die letzten fünf Semester seines Studiums.
1897 promovierte er mit dem „Beitrag zur Statistik tuberkulöser Knochen- und Gelenkleiden nach Trauma“. Zunächst, im Sommer 1897, arbeitete er im entwicklungsgeschichtlichen Institut von Professor Dr. Gustav Born in Breslau.
Arzt in München
Gustav Wiener zog nach München und arbeitete als Assistenzarzt an der Königlichen Universitäts-Frauenklinik in der Sonnenstraße 17. Er publizierte mehrere gynäkologische Artikel in verschiedenen Fachzeitschriften.
Nach seiner Zeit an der Universitätsfrauenklinik war er 1902 im Stahl- und Moorbad Bad Kohlgrub als Gynäkologe tätig. Wie lange der Aufenthalt dort dauerte, lässt sich nicht mehr feststellen.
In dieser Zeit, am 30. April 1902 heiratete er in Starnberg die neun Jahre ältere und seit 1894 geschiedene Rosa Baum (geb. 9.Juni 1862 in Ansbach), von der er sich 1911 scheiden ließ.
Beruflich kehrte Gustav Wiener nach München zurück, wo er um 1903/04 in der Maximilianstraße 38, spätestens ab 1905 in der Kaufingerstraße 37 im 2. Stock eine eigene Praxis für Frauenkrankheiten führte.
Sechs Monate nach seiner Scheidung, am 17. Januar 1912, heiratete er die dreizehn Jahre jüngere, nichtjüdische Babette Müller (geboren am 25. Juli 1886) aus Nürnberg. Im April 1915 bezog das Paar eine Wohnung und Praxis in der Sonnenstraße 12, bis sie im Juni 1932 ihre Wohnung und Praxis am Odeonsplatz 1 im zweiten Stock verlegten.
Gesundheitszustand
Von Gustav Wiener ist kein Foto überliefert, aber aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gibt es eine Beschreibung: Bei der Musterung im November 1916 hatte der 43-jährige Gustav Wiener erklärt, dass er im Alter von 8 Jahren, dann mit 13 und als über 20-jähriger an einer Nierenentzündung gelitten habe, die dazu führte, dass er 1898 als Militärdienstuntauglich ausgemustert worden sei. Wiener erklärte zudem: „Von der sich viele Jahre hindurch hinziehenden Nierenerkrankung sind heute nachweisbare Erscheinungen nicht mehr festzustellen, nur besteht eine gewisse Labilität der Herzfunktion in Form einer abnormen Pulssteigerung bei körperlichen Anstrengungen, vor allem beim Treppensteigen.
Seit dem Jahre 1913 leide ich an zeitweise auftretenden heftigen kolikartigen Schmerzen in der oberen Bauchgegend, die sich namentlich nachts zu unerträglicher Stärke steigern… Infolge meines Leidens bin ich an eine ganz bestimmte Diät gebunden, bei deren geringster Nichtbefolgung ich durch den Wiedereintritt der Schmerzen und der Blutungen für längere Zeit meiner Betätigung als Arzt entzogen werde.“
Tatsächlich bestätigte der Militärarzt die Angaben Wieners und beschrieb ihn als „schwächlicher Mann im mässigen Ernährungszustand. Muskulatur wenig ausgebildet, Gesicht schmal, Hautdecken schlaff…“ und diagnostizierte ein chronisches Zwölffingerdarmgeschwür. Gustav Wiener leistete seinen Dienst im Reservelazarett als Assistenzarzt vom 18. Januar 1917 bis zu seiner Entlassung am 30. November 1918.
Der Überfall am 28. März 1933
Noch bevor die Nationalsozialisten am 1. April den Boykott gegen jüdische Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen propagandistisch feierten, entlud sich auf erschreckend grausame Weise in der Nacht vom 28. auf 29. März die Gewalt von SA und SS in der Wohnung von Gustav Wiener. Jüdische Frauenärzte standen bei den antisemitischen Nationalsozialisten unter dem Generalverdacht illegaler Abtreibungen.
In ihrer eidesstattlichen Aussage berichtete Babette Wiener 1950: „In der Nacht vom 28. auf 29. März 1933 morgens gegen 2 Uhr wurden wir in unserer Wohnung, Odeonsplatz 1, von SA-Leuten überfallen. Durch Schläge mit Gewehrkolben wurde die Wohnungstür erbrochen. Zwölf SA-Männer drangen in die Wohnung ein, zerstörten die Telefonleitung, demolierten die Wohnung und drangen in unser Schlafzimmer ein, während andere SA-Männer vor dem Hause Posten standen. Mein Mann und ich wurden beide misshandelt, insbesondere aber mein Mann. Wir wurden uns völlig entkleidet gegenüber gestellt, wobei ich sehen musste, dass mein Mann aus allen möglichen Wunden blutete. Ihm waren auch alle Zähne eingeschlagen, beide Schienbeine waren ihm eingeschlagen und Rippenbrüche hatte er erlitten. Anschließend wurde mein Mann von den SA-Leuten fortgebracht.“
Babette lief, notdürftig mit Nachthemd und Mantel bekleidet, zu ihrer Freundin Elfriede Dittmar, die einige Häuser weiter am Odeonsplatz 8 wohnte, wo sie verstört und weinend ankam und telefonisch im Rotkreuzkrankenhaus um Hilfe bat. Ein paar Stunden später brachten Schutzleute Gustav Wiener in die Wohnung zurück. Eine Ärztin verband ihn und lieferte ihn ins Krankenhaus ein. Nach einigen Wochen konnte er für acht Tage nach Hause. Doch dann erbrach er Blut, wurde ohnmächtig und musste wieder in die Klinik gebracht werden. Von den schweren Misshandlungen erholte sich Gustav Wiener nicht mehr. Er starb nach monatelangem Krankenhausaufenthalt am 25. November 1933.
An dem Überfall beteiligt waren der Führer der Stabswache der Obersten SA-Führung, Standartenführer Julius Uhl, der SS-Truppenführer Peter Alfa, der Scharführer Andreas Schuhböck und der Scharführer Josef Höfl. Neben den brutalen Schlägen und der Verwüstung der Wohnung stahlen sie 500 RM, mehrere 100 Zigaretten, ein goldenes Feuerzeug und zwei Schusswaffen, sie zerrissen Scheckbücher, Führerschein, Versicherungspapiere und ein Testament. Selbst dem Dienstmädchen Maria Wolf stahlen sie 18 RM aus der Geldbörse.
Der Überfall war ein gezielter Terrorakt, denn die Schläger mussten bis in den zweiten Stock, um in die Wohnung des Ehepaars Wiener zu gelangen. So vernahm die Polizei Uhl zwar noch am 31. März, ließ ihn aber dann laufen. Uhl gab an, sie hätten Wiener überfallen, weil er angeblich illegal Abtreibungen vorgenommen hätte. Danach passierte nichts weiter. Der Oberstaatsanwalt berichtete Anfang Juli (!), dass die Polizei immer noch nicht alle Beschuldigten vernommen habe und auch niemand in Haft sei. Wiederum drei Monate später erklärte der Oberstaatsanwalt am 10. Oktober 1933, dass das Verfahren im August eingestellt worden sei, weil „die Ermittlungen, inwieweit die 4 Beschuldigten an den Diebstählen beteiligt waren“ ergebnislos verlaufen waren. Außerdem berief sich der Oberstaatsanwalt auf die Straffreiheitsverordnung vom 2. August 1933. Diese Verordnung verschonte die SA- und SS-Rabauken vor weiterer Strafverfolgung. Uhl ermordeten die Nationalsozialisten während des so genannten Röhm-Putsches, das weitere Schicksal der anderen Täter ist nicht bekannt. Eine juristische Aufarbeitung der Gewalttaten erfolgte nie.
Angehörige
Babette Wiener lebte vom 4. April bis 30. August 1934 in der Widenmayerstraße 7. Dann verließ sie München und zog nach Hohenschäftlarn. Die traumatischen Monate verursachten ein schweres Herzleiden und laufende ärztliche Behandlungen. Gleich nach Kriegsende stellte sie über das Bayerische Hilfswerk Entschädigungsansprüche. Von der geringen Ärzterente konnte sie ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. 1947 gewährte ihr das Bayerische Innenministerium einen Vorschuss auf die zu erwartende Wiedergutmachung. Unterlagen über die weiteren Entschädigungsverhandlungen fehlen. Babette Wiener starb am 3. Februar 1963.
Gustavs Schwester Babette war schon 1924 verstorben, seine Schwester Anna, verheiratete Spear, wurde zusammen seiner Schwester Louise, verheiratete Kohn, am 10. September 1942 von Nürnberg nach Theresienstadt und am 29. September 1942 nach Treblinka deportiert und ermordet.
Seit dem 24. Mai 2022 erinnert eine Stele am Odeonsplatz 1 an Gustav Wiener.
Foto: Tom Hauzenberger
Text und Recherche
Eva Strauß
Quellen
Stadtarchiv Regensburg
Stadtarchiv München EWK
Staatsarchiv München WB I a 1022
Bayerisches Hauptstaatsarchiv MInn 72438 / LEA 39958 / OP 51659
Stadtadressbuch München 1900-1933
Ludwig-Maximilians-Universität München: Amtliches Verzeichnis des Personals, der Lehrer, Beamten und Studierenden, 1898-1902.
Literatur
Dross, Fritz : „Von den Juden, die nicht mehr in der Gesellschaft sein dürfen…“ – „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ am Beispiel der BGGF in: Christoph Anthuber, Matthias W. Beckmann, Johannes Dietl, Fritz Dross, Wolfgang Frobenius (Hg.): Herausforderungen. 100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Stuttgart 2012, S 95-114.
Dross, Fritz / Frobenius, Wolfgang / Thum, Andreas : „Wir können ihr Geschick nicht wenden.“ Die jüdischen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Leipzig 2020.
Höpfinger, Renate : Die Judengemeinde von Floss 1684-1942. Kallmünz 1993.
Wiener, Gustav: Beitrag zur Statistik tuberkulöser Knochen- und Gelenkleiden nach Trauma. Diss. Breslau 1897.
Wiener, Gustav: „Fibromyom des Ovariums“ in: Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie 2.1899, S. 288-297.
Wiener, Gustav: „Ein Melanosarkom der Vulva“ in: Archiv für Gynäkologie. 82.1907, S. 521-527.